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Die Quelle des Schreibens

Eine Spur abseits einer mittleren Mentalverfassung ist für ein literarisches Schreiben hilfreich, behaupten einige. Andererseits erleben manche Autoren, wie eine seelische Belastung ihre Arbeit beeinträchtigt, sogar zum Stillstand bringt. Wenn dann wieder ein Schreiben möglich wird, kann das eine befreiende Wirkung haben. Jedenfalls dürfte man bei der Suche nach der Quelle das Schreibens auf einem guten Weg sein, wenn man die Seelenkräfte im Blick behält. Nobelpreisträger Hermann Hesse hat bei Analytikern Hilfe gesucht. Die Erstarrung begann sich dann zuweilen zu lösen. Manches brach. Lebendiges entstand, das Form fand, nicht zuletzt als Bücher – wie der 1917 in zwei Monaten geschriebene “Demian”. Der amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe bedankt sich am Ende seines Romans „Ich bin Charlotte Simmons“ bei einem Psychotherapeuten. Durch ihn sei die Arbeit überhaupt nur zu einem Ende gekommen. Der Hinweis auf den Seelenkundigen lässt schon aus quantitativen Gründen aufhorchen. Der Roman hat 960 Seiten.

Lassen wir es bei einem Wort

Zu simpel sollte man sich die Wechselwirkungen zwischen Psychotherapie und Literatur nicht vorstellen – nach dem Motto: Hilfesuchender geht zum Therapeuten, Schriftsteller geht aus der Therapie heraus. So sind die Romanfiguren des Büchnerpreisträgers Arnold Stadler skeptisch gegenüber dem medizinisch-technischen Slang mancher Psychiater. Dabei hat Stadler selbst überhaupt nichts gegen eine Sorge, die der Seele gilt, im Gegenteil! Literatur, das Lesen von Büchern, hat er als engagierte Seelsorge bezeichnet. Sie befreie aus jeglicher Form von Massenabwicklung, gelte sie doch dem Einzelnen. Vielleicht auch deshalb hinterfragt die Hauptfigur des Romans „Sehnsucht“ das Ansinnen des Therapeuten, die Stärke von Empfindungen in den Kosmos des anerkannten Mittleren einzufügen. Eine Etikettierung wie „manisch-depressiv“ erlebt die Figur jedenfalls als Nivellierung seines „Hoffnungsschmerzes“. Diese Urerfahrung, dank der er sich letztlich der angeratenen „Desinsibilisierung“ verweigert, lässt ihn Anderes erfahren: “Die Liebe – lassen wir es bei diesem einfachen Wort.”

Komisches Stolpern

Dass die Seele Quelle des Schreibens ist, zeigt sich ganz konkret, wenn sie Erzählstoff wird. Im Roman “Ach wie gut, dass niemand weiß“ der Hessischen Kulturpreisträgerin Gabriele Wohmann ist die Hauptperson eine Analytikerin. Die seelisch nicht gerade robust zu nennende Protagonistin übernimmt eine Praxisvertretung in der Schweiz. Und scheitert aufs Kurioseste beim Konstruieren dessen, was man eine abgerundete Identität nennen könnte. Ihr nur schlecht kaschiertes Stolpern durch die Zumutungen des Lebens hat Slapstick-Charakter. Und illustriert, was die auch als Hauptdarstellerin des Films “Entziehung” bekannt gewordene Wohmann selbst „Komik des Scheiterns“ genannt hat.

Seelenkundige Literaten

Die Quelle des Schreibens

Aber wenn Therapeuten als literarischer Stoff taugen, sind sie dann umgekehrt auch prädestiniert dafür, zu Subjekten des Schreibens zu werden? Tatsächlich ist jemand wie Irvin D. Yalom nicht nur herausragender Vertreter der existenziellen Psychotherapie, sondern außerdem Autor gefeierter Romane. Und die Heinrich-Mann-Preisträgerin Helga Schubert hat als Psychologin gearbeitet. Ebenso lohnt der Blick in das jüngst veröffentlichte Werk „wie weit ist ein wir?“ des Psychotherapeuten Bernhard Winter. Dem Textpresso-Preisträger und für den Tassilo-Kulturpeis Nominierten geht es ums treffende Wort. Es sind nicht viele, die er auf dem Weg zu ihm benötigt. Und diese wiederum verdichtet er, es sind Gedichte.

Weniger Räuspern

Das treffende Wort als Ziel des Schreibens zu bezeichnen, ist allerdings nicht ganz treffend. Geht es den „Spuren in die Liebe“, wie das Buch im Untertitel heißt, doch auch darum, dass Menschen nicht allein ein Wort, sondern Klang finden oder werden: „wer flüstert/aufschreit/singt“ mit ihm, wird in ihm leben, heißt es im Gedicht “Südwind”. Angestrebt ist keine bestimme Dezibelzahl, das Tönen sollte vielmehr Qualität haben. Schließlich gebe es „zu viel Lärm, zu wenig Klingen/zu viel Räuspern, zu wenig Singen (…)/zu viel Stier, zu wenig Kuh/zu viel ich, zu wenig du“. Ein Mensch, traut man den Gedichten, findet Stimme, wenn er sich bei seinen Drehbewegungen ums ich noch von anderen Bewegungen mitnehmen lässt, denen ums du, um Gott und die Welt.

Mehr Schreien

Es dürfte kein Fehler sein, vermutet man in den Wanderungen durch die Landschaften der Seele eine Inspirationsquelle des Lyrikers. Unterwegs zur Stimmwerdung des Menschen geht es dabei nicht um ein gewissenhaftes Befolgen von Regeln. Zumindest ist da noch anderes, nicht selten sanktioniert und zensiert, das den Weg ins Lebendige weist. Und einen Interpreten ganz nebenbei daran hindert, die Gedichte in die sauber in Reihe gehaltene Natur von Barockgärten zu verorten. „Trau nur der Bärin“ heißt ein Gedicht. Positiv assoziiert wird außerdem die Kraft der Wölfe, von denen es 14 Arten gebe. Außerdem führt der Weg zum „Klingen/das kein Klingen ist/wie sonst“ nicht zuletzt über das Schreien.

Das Weiche im Harten

So kann der Garten genossen werden. Ein Raum, der die Lebenslust nicht einhegt, sondern anregt. Das womöglich Schönste an der Erfahrung von Sprache – nicht nur des Lyrikers Bernhard Winter: Wenn die Quelle des Schreibens unmittelbar aufblitzt. Das ist möglich unabhängig von Literaturpreisen, Rezensionen, Interviews, Testimonials, Theatereventlesungen und Audioguides, die einen Leser kommentierend durchs Buch begleiten, damit dieser nur ja alles korrekt versteht. All solch ein Werben, Tauschen und Paktieren in Sachen Aufmerksamkeit ist gewiss hilfreich, sonst würde man Bücher oft gar nicht erst entdecken. Manchmal aber ist das eine allzu harte Währung, bei der schon mal verblasst, was eine oder vielleicht sogar die Keimzelle von Literatur ist: ein Buch und ein Leser. Dieses Wenige aber ist alles. Bei Bernhard Winter sind solch lärmlose literarische Primärerfahrungen möglich. Zum Beispiel in Zeilen, die eine Birke besingen. Sie ziehen ihre Kraft aus einem kindlich großen Vermögen, auf sinnliche Weise präzise zu sein. Ein Leser, der selbst schon Freundschaft mit Birken geschlossen hat, merkt auf jeden Fall sofort: Der Autor hat manchen Baum selbst erklettert. Sonst stünde da nicht unverwechselbar schön, dass die Birke das „Weiße im Schwarzen/das Weiche im Harten“ erleben lässt.

Das Buch “wie weit ist ein wir?”

Bernhard Winter, wie weit ist ein wir? Spuren in die Liebe, 64 Seiten, Herder Verlag 2023. Weitere Informationen hier.