Neues Leben, Stille

Das Allerletzte

Es ist das Allerletzte, das Tiefste, Größte, allem Zugrundeliegende, sagen einige. Aber um nur einen Hauch davon erfahren zu können, müsste es etwas geben, das sich ihm anders nähert als die gängig gewordene „Fremdheit, Stummheit und Hilflosigkeit“, wie Stefan Seidel das heute herrschende Verhältnis gegenüber Gott beschreibt. Er hat zum Thema seines Buches „Grenzgänge“ das gemacht, worüber niemand redet oder kaum reden kann. Wenigstens nicht auf übliche Weise. Was selbst dann bestätigt wird, wenn Gott wiederum so wahllos oft in den Mund genommen wird, dass das noch hilfloser wirkt als ein Verstummen. Und doch spricht Seidel von Gott so, dass es klingt. Unmöglich? Nicht weniger unmöglich, als dass sich ein Journalist seinen Gesprächspartnern mit Wohlwollen nähert.

Das Allerletzte - Grenzgänge von Stefan Seidel

Unmöglich, aber wahr: Ein Buch von Gott

Das Wohlwollen nämlich gilt unter Journalisten so ziemlich als das Allerletzte. Und wenn jemand – wie Seidel – auch noch Theologe und Psychologe ist, kann man eher damit rechnen, dass der Autor dann in angestrengter Abgrenzung zu diesen als indiskutabel weich verschrienen Berufsfeldern erst recht ruppig auftritt. Dazu über Waffen wie Unterbrechungswut und Kontrageschrei verfügt, die andere in die Enge treiben, um den so gewonnenen Raum für sich zu reklamieren. Damit lässt sich ja auch etwas werden. Nur wird daraus kein Buch von Gott, das staunen lässt und rührt.

Hilfreich

Das Buch ist kein Manifest, sondern das Zeugnis immer neuer Suchbewegungen. Seidel unternimmt sie mit anderen. Unter ihnen Theologinnen und Theologen mehrerer Erdteile, aber nicht ein Bischof oder eine auf ähnlicher Ebene aktive Kirchenamtsinhaberin, stattdessen auch viele Künstlerinnen und Dichter. Von denen man aufs Erste kaum denken würde, dass sie das sind, so sehr und tief gläubig, dass es sich gar nicht anders sagen lässt als: fromm. Sie sprechen ohne Scheu davon, sogar vom Auferstehen, und zwar verwegen, verwirrend, tastend, schräg und dann doch auch wieder geradeheraus, einfach. Und nie hätte irgendein Kampfinterviewer sie nach all dem zu fragen getraut in seiner zupackenden, lauthals unbeholfenen Art. Seidel aber zeigt, dass Journalisten anders sind. Manche.

Pinselstrich um Pinselstrich

Der Autor nähert sich den von ihm nach dem Allerletzten Befragten mit dem Allerletzten, eben diesem Wohlwollen, das an einen Archäologen erinnert, der nicht das Geringste zerstören will von den unschätzbaren Kostbarkeiten, nach denen er forscht. Mit einer intensiven Aufmerksamkeit, gleichsam Pinselstrich um Pinselstrich den Sand abstreifend, nähert er sich dem, was in der tiefsten Schicht des Menschen ruht, auf der letzten Ebene. Dort kann, wenn jemand Vertrauen spürt, ein Sprechen beginnen, das die krampfhaft kontrollierten Wortfolgen verlässt und aufersteht.

Etwas Eigenes

So erfährt man von der Schriftstellerin Helga Schubert, dass sie auf dem Nachttisch die Bibel hat, denn: „Man ist nicht dumm und kritiklos, wenn man glaubt.“ Was man ihr augenblicklich abnimmt, weil sie sich gegenüber Christa Wolf einst durchaus auch Skepsis erlaubte, etwas Eigenes. Und damit anders reagierte als der fast Jahrzehnte währende Einigkeits-Kult gegenüber Wolfs Schreiben auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze. Wie sehr die Suchbewegung des Glaubens erfrischende Kapriolen nach sich ziehen kann, zeigt sich noch an Anderem bei Schubert. 2020 nämlich erhielt sie den Bachmann-Preis, jene begehrte Auszeichnung, die als Eintrittskarte in den Zirkel der literarisch ernst Genommenen im deutschsprachigen Raum gilt. Also ein Preis für hoffnungsvolle Newcomer, der die Tür für alles Weitere im Leben einer Autorin öffnet, könnte man sagen. Zu diesem Zeitpunkt war Schubert, die Heinrich-Mann-Preisträgerin, die fast 20 Jahre nicht mehr publiziert hatte, 80 Jahre alt.

Schöner als Applaus

Direkt, klug und schön, wie Herbert Blomstedt am Ende des Buches vom Verhältnis von Religion und Musik spricht, was ebenfalls aufs Allerletzte verweist, das damit zugleich das Erste ist, auch wenn es am Ende kommt, aber eben so, dass es schon wieder der Anfang ist, der Anfang von Allem. Da gebe es jedenfalls etwas, das mehr sei als die Begeisterung oder Ekstase über eine perfekte Darbietung, sagt der Dirigent. Etwas, das sich vielleicht als Schwester des Wohlwollens bezeichnen lässt: „Ich erlebe es selbst, wenn ein Werk in Stille mündet und das ganze Publikum spontan den Atem anhält und vielleicht minutenlang seinen Applaus zurückhält. In der Stille spricht Gott zu jedem – und zu jedem spricht er verschieden.“

Grenzgänge

Stefan Seidel, Grengänge. Gespräche über das Gottsuchen, 296 Seiten, Claudius Verlag, München 2022, 26 Euro, ISBN-Nr.: 978-3-532-62880-5. Weitere Informationen hier.