Abschied

Wilde Hoffnung Heidelbeere

Loslassen-Können gilt als hohe Tugend. Nur sollte man dann auch ab und an das Loslassen selbst loslassen. Sonst hat man am Ende vor lauter könnerhaftem Abschiednehmen eine der kraftvollsten menschlichen Regungen überhaupt losgelassen: die Hoffnung. Das schreibt Georg Magirius unter der Redaktion von Dr. Jerzy Staus im Würzburger katholischen Sonntagsblatt vom 12. November 2023. Und zwar in seinem Beitrag „Von einem, der aufstand, das Kuchenessen zu lehren“. Die Erzählung handelt von einem Mann, der seinen fast schon religiös zu nennenden Bekennereifer fürs Kuchenessen aufgeben will. Zum besseren Verständnis des Textes hat Redakteur Staus eine Kommentarspalte hinzugesellt. Passend zum nicht tödlich ernsten Gepräge des Textes über die wilde Hoffnung Heidelbeere handelt es sich bei den Deutungshilfen um Witze.

Von wegen Baumkuchen!

So kommt, erzählt einer der Witze, ein Holzwurm schimpfend aus der Konditorei: „Von wegen Baumkuchen – alles Schwindel!“ Der Holzwurm, lässt sich folgern, hat das mit dem Loslassen noch nicht gelernt. Er schimpft, kennt also Hoffnung, Lust, Enttäuschung, Leidenschaft und die Sehnsucht, dass sich Wünsche real und nicht nur symbolisch in Form einer Holzattrappe erfüllen. Nicht unähnlich empfindet der Protagonist der Erzählung. Ehe der Siegeszug des Loslassen-Lernens beginnt, fühlt er sich ganz normal, hat Hunger, schimpft, freut sich. Den Freibadsommer würde er am liebsten verlängern für immer. Und ginge es nach ihm, würde er auch den Christbaum am Ende der Weihnachtszeit nicht zur Tür hinausbitten.

Kaugummi statt Kuchen

Eines Tages indessen will er sich anders als der Holzwurm auf die neue Zeit einlassen, mit dem Schimpfen aufhören. Und mit einer ausgewogenen Emotionalität reüssieren.

Er belegte Kurse, was mit einer nicht unbeträchtlichen finanziellen Investition verbunden war. Bald hatte er Lektion eins gelernt: “Abschiednehmen ist ganz natürlich”, sprach er mit gleichmäßiger Stimme. Die Ich-Botschaft dabei durfte nicht fehlten: “Ich will lernen, richtig loszulassen.” Er betonte die Silbe ‚los-‘, dehnte sie wie einen Kaugummi, das war schon recht gekonnt.

Von einem der aufstand, das Kuchenessen zu lehren, Würzburger Sonntagsblatt

Sahne ohne Fragezeichen

Auch bei den folgenden Lektionen stellt sich der frischgebackene Jünger im Abschiednehmen geschickt an. Er beginnt sich fleißig durch den Klassiker “Trauern in allen Einzelheiten” zu ackern. Trainiert auf Beerdigungen, den zu Verabschiedenden einfach gehen zu lassen. Er durchwandert gleichmütig Umzüge, Trennungen von Freunden und der Partnerin. Außerdem wechselt er mehrfach den Beruf. Nur der Tod des Menschen, der ihn einst mit der wilden Hoffnung Heidelbeere vertraut gemacht hat, bringt ihn dann doch aus der professionell eingeübten Gefühlsmittellage. Er erinnert sich, wie sie im Sommer Heidelbeerkuchen um Heidelbeerkuchen aßen. „Auf die Frage der Bedienung ‚Mit Sahne?‘ hatte sein Vater beim ersten Mal so geantwortet, dass später kein einziges Mal mehr gefragt zu werden brauchte.“ Und jetzt?

Mensch im Sommergarten

Ein letztes Mal wollte der Mann noch Hilfe suchen. Und zwar bei jemandem, der kein Wissenschaftler war. Auch nannte er sich nicht Trauerberater, hatte noch nicht einmal ein Sprechzimmer. Er nannte die zu ihm Kommenden nicht Klienten oder Patienten, sondern Menschen. Der Berater empfing die Ratsuchenden am liebsten unter freiem Himmel. Als er den Berater in einem Sommergarten-Café unter ausladenden Kastanienbäumen aufsuchte, schaute der ihn kurz an und sagte: „Komm, gehen wir!

Aus: Von einem, der aufstand, das Kuchenessen zu lehren

Aufstand

Der einst so leidenschaftliche Heidelbeerkuchenesser zögert und sagt: „Ich muss zuvor noch Abschiednehmen.” Der Gastgeber unter den Kastanienbäumen winkt der Bedienung:

“Noch zwei Stück Heidelbeerkuchen.” Die beiden saßen nur da, sagten nichts, schauten die Sonnenflecken an, die durch das Kastanienblätterdach hindurch auf die Tische sprangen. Als sie sich schließlich daran machten, die Kuchenstücke samt der prächtig steif geschlagenen Sahne zu essen, lächelte der eigentümliche Caféliebhaber seinen Gast an: “Lass doch die Fachleute deinen Vater begraben.“ Da machte der Mann Schluss. Er nahm Abschied. Und zwar davon, gesittet Abschied zu nehmen. Er stand plötzlich auf und rief: „Das Freibad öffnet wieder. Weihnachtsbäume nadeln nicht. Und wer sagt, mein Vater ist tot, der lügt!“

Aus: Georg Magirius, Von einem, der aufstand, das Kuchenessen zu lehren, Würzburger Sonntagsblatt