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Heimisch im Erzählen

Wie findet man ein Zuhause? Dieser Frage kann man mit dem Roman „Wo ist Norden” von Barbara Handke nachgehen. Das in der edition überland veröffentlichte Buch verweigert eine direkte Antwort. Aber diese Weigerung liest sich so, dass man sich paradoxer Weise gerade dadurch geborgen fühlen kann – beim Lesen des Buchs. Die Autorin erzählt, wie sich eine Familie das Glück zusammenzimmern will. Es ist in Mecklenburg, kurz nach dem Mauerfall. Die Grenzen stehen offen. Alles scheint möglich zu sein.
Zauber
So beginnt die Familie ein Gutshaus zu renovieren. „Hinter dem maroden Zustand war zu ahnen, dass dies eigentlich das Paradies war“, sagt Niketsch, der Ich-Erzähler. Denn „trotz des unermesslichen Verfalls, trotz der überwältigenden Aufgabe hatte dieser Ort einen Zauber, der zuversichtlich machte. Irgendwie würde es schon werden, und indem sich die Wunden dieses Anwesens schlossen, würden auch wir heil werden und alles, was unstimmig war an unseren Leben, wäre wie weggeweht.“ Bald zieht Niketschs Bruder ein und dessen Frau, dazu deren Kinder, schließlich Niketschs Eltern.
Warten
Er, der im Haus das gar nicht weit entfernte Paradies erahnt, fühlt sich dort dann aber doch nicht richtig zu Hause. Genauso wenig in seiner Wohnung, in der er außerdem lebt, die „ein Depot“ war, „eine Wartungsstätte des Alltags“. Und findet Niketsch einen Ort, zu dem er gehört? Er ist sich nicht sicher, was für ihn typisch ist. Denn anders als sein Bruder ist er kein selbstgewisser Mensch. Fleißig schon, aber doch jemand, der sucht, immer wieder einmal schaut und wartet, raucht. Das Rauchen genießt er und denkt dabei, doch wieder einmal einen Anlauf zu nehmen, mit dem Rauchen aufzuhören. Wobei das Wort Anlauf ein Tempo suggeriert, das dem Helden des Romans nicht entspricht. Er ist gemächlich unterwegs.
Taten

All das wirkt in den Augen derer, die immerfort damit beschäftigt sind, die Welt zu erobern, hilflos. Die angebliche Hilflosigkeit jedoch weist den Weg in ein ein Zuhause, das die Anhänger von Punkt und Ausrufezeichen übersehen. Mag Niketsch kein Macher sein, hat er doch den Mut für ungewöhnliche Taten. „Wenn ich schon keine Antwort wusste, so konnte ich doch zumindest fragen“, konstatiert der Held, der so gar nicht heldenhaft im üblichen Sinn wirkt. Den Auftrittssicheren ist er damit aber in mancher Hinsicht voraus. Denn er verfügt über die Begabung zum Überlegen.
Fragen
Er hört den Kindern zu und erzählt ihnen Geschichten. Damit widersetzt er sich den Immer-Zupackenden, die sagen: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Der Ich-Erzähler ist dieser Gesinnung müde. Und wird genau in dem Augenblick hellwach, da er den Kindern tatkräftig hilft, im Gewächshaus zu schlafen. Da wirkt Niketsch angekommen – im Erzählen. „Wie viel schöner war es im Glashaus, im Kürbispflanzenreich mit seinen Schatten und Spinnen, in dem die Kinder Fragen stellten, die Erwachsenen nicht mehr einfielen.“