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Plädoyer für die Traurigkeit

Der Winter ist nicht therapierbar, er ist keine Trauerphase der Natur. Sondern die Rückseite einer vielleicht viel bedeutenderen und wirklicheren Welt. Das behauptet Georg Magirius in seinem Beitrag über den Winter als Freund der Hilflosigkeit. Er ist ein Plädoyer für die Traurigkeit, das er veröffentlicht hat in der Evangelischen Zeitung im Norden am 4. Februar 2011. Die Redaktion hat Sven Kriszio.

Der Beitrag “Plädoyer für die Traurigkeit”

Wer von Stille überwältigt wird, fühlt sich aus der Welt gefallen. Und wer in die Stille geht, still steht und keinen Schritt weiterkommt, gilt als Sonderling und problematisch. Lebendig nämlich ist in der Regel das, was wächst: Der Kontoinhalt blüht auf, Freundschaft entwickelt sich und natürlich sollen sich auch Wissen, Gemeinschaft und Glaube vermehren, damit zum Beispiel auch die Kirche irgendwann einmal wieder wächst – gegen den Trend.

Die kalte Jahreszeit aber passt in die Ideologie des unaufhörlichen Wachsens nicht hinein, sie ist kein Schrumpfen und kein Sich-Entwickeln, sondern Stillstand. Und erfassen kann den Winter vielleicht am besten der, der aus dem Tritt gerät, ausrutscht und im Graben liegt. Der Winter ist eine Provokation, selbst wenn man ihn noch so sehr bändigen will mit Splitt und Räumfahrzeugen. Und auch wenn man ihn mit Schlittenfahren und Skiliften bespaßen will, tut er doch weh, weil in ihm die Leere lauert.

Der Winter ist also auch nicht einfach nur die Rückseite des Sommers. Er zeigt demjenigen die kalte Schulter, der ihm theologisch geschickt Sinn und Trost einhauchen will – nach dem Motto: Wärme könne man doch schließlich nur empfinden, wenn man auch die Kälte kennt. Nein, wenn Frost herrscht, gibt es keine Wärme. Hoffnungslos. So ist man von der gesellschaftlich inszenierten Heuchelei befreit, sich selbst, das Leben und die Umgebung permanent als hoffnungsfroh zu deuten. Der Winter ist der Freund der Hilflosigkeit. Der Schmerz ist nicht mehr allein, weil er sich nicht dafür entschuldigen muss, wenn da nichts ist als Trauer. Viele, glaube ich, werden gegenwärtig immer trauriger, weil ihre Traurigkeit kein Recht hat, einfach Traurigkeit zu sein. WEITERLESEN