Allgemein, Religion und Poesie

Wichtiger als Deutsch und Rechnen

Wichtiger als Deutsch und Rechnen in der Schule auszuweiten, ist für die Entwicklung des Kindes das Singen. Von ihm profitierten auch die Leistungen in Deutsch und Rechnen. Das hat der Theologe Ansgar Franz während eines Interviews für die Sendung „Der Klügere singt“ gesagt. Das Feature von Georg Magirius vom 7. April 2024 ist jetzt in der ARD-Audiothek online hörbar. Franz lehrt an der Mainzer Gutenberg-Universität Hymnologie, Homiletik und Liturgik und leitet des Mainzer Gesangbucharchiv.

Wichtiger als Deutsch und Rechnen: Singen macht mutig

Musik, Religion und Sport sind “Soft Skills jenseits eines unmittelbar messbaren Levels, die für die Entwicklung einen enormen Stellenwert haben.” Laut Studien fördert das Singen Konzentrationsfähigkeit, Selbstbewusstsein, Teamfähigkeit, es macht fröhlicher und aufgeweckter. Wie wichtig das Singen schon in früheren Zeiten war, ist im Gesangbucharchiv in Mainz sichtbar.

Das Mainzer Gesangbucharchiv

Das Archiv umfasst etwa 8000 Gesangbücher. Darunter das erste Gesangbuch in deutscher Sprache als Faksimile, das Erfurter Enchiridion, das 1524, also vor 500 Jahren, erschien. Mehrere der im Enchiridion versammelten und damals neu gedichteten Lieder sind von Martin Luther, der freilich bewusst auf Altes zurückgegriffen hat.

Ansgar Franz singt aus dem ältesten Gesangbuch in deutscher Sprache

Das ist hier „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“, was wir gerade aufgeschlagen haben. Und das ist nach Psalm 130: Aus der Tiefe rufe ich, Herr zu dir. Ja (singt) Aus tiefer Not schrei ich zu dir. Herr Gott, erhör mein Rufen. Mein gnädig Ohren kehr zu mir, und mein – (unterbricht sich) ah da ist schon der Druck – und meiner Bitt sei offen. Sei offen – genau, denn so du willst es sehen an, wie manche Sünd ich hab getan, wer kann vor dir, herr bleiben?

Ansgar Franz, “Der Klügere singt”, Bayerischer Rundfunk, Sendung jetzt hören

Melodie imKopf

Weil die neuen Texte oft neue Melodien hatten, war es nötig, Noten zu drucken. Auch wenn das aufwendig und deshalb teuer war. Rasch folgten weitere Gesangbücher mit immer weiteren Liedern, sie breiteten sich wie ein Lauffeuer aus, sagt Franz.

Warum haben viele Gesangbücher keine Noten?

Man schätzt, dass es 1700 über 100.000 Kirchenlieder gibt, das heißt nach dieser Initialzündung im 16. Jahrhundert explodiert dieses Genre. Und ich nehme jetzt eins heraus (Rascheln), wenn Sie das aufschlagen: Laubach, 1756: keine einzige Melodie drin. Da steht über den Liedern: Melodie: Nun freut euch, liebe undsoweiter. Also es gibt ein Repertoire an Melodien in den Köpfen der Menschen, und dann kommen neue Texte hinzu.

Ansgar Franz, “Der Klügere singt”, Bayerischer Rundfunk

Text im Herzen

Aber nicht nur die Melodien waren den Menschen geläufig, sondern auch die Texte. Die Zahl der Gesangbücher nahm zwar immer weiter zu. Doch führte die Begeisterung fürs Singen dazu, dass das Buch oft gar nicht aufgeschlagen werden musste.

Das ist das Vehikel, aber das Eigentliche ist das Ereignis, der Gesang. Und wir können davon ausgehen, dass die Memorierfährigkeit der Damaligen, die nicht abgelenkt war durch irgendwelche soziale Medien, viel höher gewesen ist als unsere. Das heißt, die meisten dieser Lieder hat man irgendwann auswendig gesungen. Wenn Sie sich die ersten lutherischen Gesangbücher anschauen nach dem Enchiridion, das Klugsche, das Bramsche Gesangbuch, dann waren die so kostbar und so gut aufgemacht, weil man sagt, der Inhalt ist kostbar, also ist das Äußere kostbar. So ist nicht davon auszugehen, dass jeder ein Gesangbuch hatte und auch mit in den Gottesdienst genommen hat. Dass man Gesangbücher überhaupt in den Gottesdienst genommen hat, ist vermutlich erst 100 Jahre später der Fall. Sondern man hat das auswendig gesungen. Man hat das gelernt, indem Schülerchöre die Lieder gesungen haben, und irgendwann konnte man mitsingen. Und irgendwann kannte man sie selbst.

Ansgar Franz, “Der Klügere singt”, Bayerischer Rundfunk jetzt hören

Von Augustinus und Bonhoeffer lernen

Ein Können, das Ansgar Franz auch heute für sinnvoll hält. Denn jeder könne in Situationen kommen, wo einem Worte fehlen. Dann könne man auf geprägte Worte anderer zurückgreifen, die Schutz und Trost bieten, weil man sie gelernt hat und sie möglicherweiswe nun noch einmal ganz anderes sagen.  

Augustinus schreibt in den Confessiones, dass er untröstlich war, als seine Mutter starb, aber dass er dann Trost in den Hymnen des Ambrosius gefunden hat. Und von Bonhoeffer wissen wir, dass er die Lieder von Paul Gerhardt memoriert hat in der Gestapohaft. Wirklich Dinge, die in einem ruhen, die aber in besonderen Situationen wieder verlebendigt werden können. Das heißt aber, dass ich mir irgendwann diesen Vorrat zugelegt haben sollte. Von daher die Mahnung, dass wir mit unseren Kindern singen.

Ansgar Franz, “Der Klügere singt”, Bayerischer Rundfunk, zur Sendung hier

Schönheit verinnerlichen

Eine Mahnung, die kaum dazu führen dürfte, dass Kinder das Gefühl bekommen, dass ihnen etwas eingetrichtert wird. Denn Lieder haben etwas Spielerisches. Sie verinnerlichen sich, indem Kinder mit ihrer Stimme sich nach außen wenden. Kinder wollen ja singen, nicht immer zuhören. Und Lieder sind für dieses verinnerlichende Mundaufmachen ideal.

Schlicht und ergreifend, weil ich eine Chance habe, diese Lieder zu memorieren, also wenn ich sie häufig singe, dann bleiben sie in meinem Gedächtnis, in meinem Herzen, wo auch immer und ich trage sie mit mir. Und das würde ich von einer Predigt nicht unbedingt sagen. Wenn ich bedenke, ich bin jetzt 65: Wie viele Predigten ich in meinem Leben gehört habe! Und an wie viele Predigten erinnere ich mich? Ich denke, die Kraft des Liedes ist, dass es eben diese beiden Komponenten hat. Es hat die poetische Seite des Textes und es hat die musikalische Seite der Melodie. Und dieses beides zusammen, das macht eben die Stärke aus.

Ansgar Franz, “Der Klügere singt”, Bayerischer Rundfunk, zur Sendung hier

Die Sendung in der ARD-Audiothek

Die Sendung “Der Klügere singt” ist jetzt in der ARD-Audiothek zu hören. Neben Ansgar Franz vom Mainzer Gesangbucharchiv ist in der Sendung der Kinderchor der Evangelischen Kirchengemeinden Nied und Griesheim unter Leitung des Kantors Lukas Ruckelshausen mit mehreren Liedern zu hören. Die Kinder erklären auch, was Singen überhaupt ist, wie es sich anfühlt und was es bewirkt. In der Sendung außerdem: Psalmenforscher Egbert Ballhorn und Kantor Simon Daubhäußer, die in der Dortmunter Propsteikirche Gottesdienste gestalten, in denen Psalmen gesungen werden. Schließlich kommt der Poet und Pfarrer Friedrich Karl Barth zu Wort. Von ihm stehen mehrere Lieder in den aktuellen Gesangbüchern der beiden großen Kirchen. Er erzählt und singt davon, was die vielleicht wichtigste Eigenart des melodiösen Mundaufmachens ist: Sprachlosen ein Wort, Traurigen ein Lied und Stimmlosen Stimme geben.