Frankfurt

Du schönes Land der Langsamfahrer

Was ist eine der stärksten und schönsten Emotionen? Die Überraschung. Sie erlebt man auf Schritt und Tritt von „B 44“, dem aktuellen Buch von Ruth Krämer-Klink und Otto Ziegelmeier, veröffentlicht im Engelsdorfer Verlag. Schritt und Tritt – das ist trotz Thema Straße keine unpassende Metapher. Denn in dem mit weit über 100 Fotos gespickten Band ist gerade ein (!) fahrendes Auto abgebildet. Es geht den Poträtierenden der von Frankfurt am Main bis Ludwigshafen am Rhein reichenden Strecke nicht um Asphalt, Staus, Hupen, Fluchen, Geschwindigkeits-Rekorde, Drängeln und Überholen. Sondern um das Drosseln des Tempos. Und noch um viel mehr: nämlich ums Aussteigen, Schauen, Umhergehen, Einkehren, Genießen, Entdecken, Wieder-Einsteigen.

Farbstark

Was einen im Vorbeifahren vielleicht schon immer selbst ins Fragen kommen ließ, findet hier Antwort. So ist ein in Frankfurt bereits von Weitem ins Auge fallender verglaster und fast kreisrunder, schmaler Bau „keine Spalttablette“, sondern eine Beherbergungsstätte mit Schwimmbad im 18. Stock, das Radisson Blu Hotel. Die farbstark bemalten Mauern des Generalkonsulats von Pakistan in Sachsenhausen sind ein Transfer der Kunstbewegung Phool Patti, „die in Pakistan die Straßen schöner und knalliger macht“.

Widerständig

Ein ehemaliger Wasserturm in Mannheim ist eine Schule. Eine Tankstelle in Neu-Isenburg kommt ohne Personal aus, während sich nicht weit davon entfernt im Mädchensee eine junge Frau aus Liebeskummer ertränkt haben soll. Die Hüttenkirche zwischen Mörfelden und Walldorf stand ursprünglich im Flörsheimer Wald. Sie war Zeichen des Widerstandes, aber auch der Versöhnung und Hoffnung während der Proteste um den Bau der Startbahn West 1980 und 1981. In Biebesheim gibt es den Wohnsitz einer noch nie gesehenen Hexe, in Goddelau eine Erdölförderanlage, in Mannheim und Frankfurt Jugendstil, in Groß-Gerau die an ein zwölftägiges Gelage von 1782 erinnernde Lustsäule und in Lampertheim romantische Fachwerkhäuser mit Weinstube.

Fließend

Eindrucksvoll ist die fließende Präsentation der insgesamt 90 Orte. Sie wirkt aufbruchsfroh und doch wie ein tiefgehendes Atemholen, schwungvoll und bleibend in einem. Die Fotos wechseln in ihrer Größe. Kaum eine Ortsvorstellung ist wie die andere gestaltet. Manchmal scheinen dabei die Plätze einander zu berühren, ineinander überzugehen, dann wieder signalisieren sie: Stopp! Wenn ein Foto nämlich zwei Seiten ausfüllt, etwa Ort 44 an der B44, Gerauer Straße: „Geduld ist angesagt: Beschrankter Bahnübergang.“

Lustvoll

Die Texte sind mal einen Satz kurz, können aber auch eine Halbseiten-Erzählung sein. Sie wechseln zwischen Anekdote, informativem Aha, biographischer Reminiszenz, träumerischer Aufklarung, historischer Kenntnis, kunstsinniger Kommentierung, zwischen Kopfschütteln, Augenzwinkern und Schwärmen. Das klingt so beiläufig gelassen und abwechslungsreich, dass man sofort merkt: Dem Buch geht es nicht ums Einhalten eines wie auch immer gearteten Genres, sondern um Lebenslust.

Du schönes Land der Langsamfahrer

Das Autorenduo ist eingespielt, lässt bei allem Gleichklang auch je Eigenes einfließen. Ruth Krämer-Klink ist schon oft durch Fotos, aber auch durch Gestaltung und Texte hervorgetreten. Otto Ziegelmeier ist schon oft durch Texte, aber auch durch Gestaltung und Fotos hervorgetreten. Wenn eine Bundesstraße zu solch einer – ja, liebevollen Aufmerksamkeit für Straßenrandgebiete führt, dann gilt: Guten Morgen, du reiches Deutschland! Denn es gibt sie doch in dem oft als raserfreundlich gerügten Land: die Träumer, Poetinnen, Aussteiger, Entdeckerinnen und Genusslustigen.