Abschied, Neues Leben
Loslassen oder Anfassen?
Loslassen lernen! Oder besser die Hände ausstrecken und nach etwas greifen? Was ist hilfreich? Viele bekennen sich zum Loslassen. Es wird in spirituell interessierten Kreisen fast schon als Allheilmittel gehandelt. Gerade wenn es ums Trauern geht. Loslassen verspricht, Altes verabschieden, den Trauerprozess beenden oder transformieren zu können. Und dann? Man stellt sich oft vor, nun vielleicht auch insgesamt weniger griffig, sondern unverhafteter, schwebender, freier zu leben. Weil Altes losgelassen ist, kommt die Lust auf Neues. Das aber, überlegt man, sollte dieses Mal immateriell, sphärischer, werthaltiger als das Leben zuvor sein. Aber kann es sein, dass das Hände-Freihaben-Wollen ein Schutzmechanismus ist? Weil den Händen oft genug etwas entrissen worden ist? Dann wäre die Kunst, mit den Händen voller Freude das Leben neu anzufassen, es zu packen, zu spüren, zu betasten und dadurch zu lernen, es wieder zu genießen. Und so die Verbundenheit mit Irdischem auszukosten. Womöglich also ist nicht das Festhalten das Problem, sondern der Wunsch freihändig zu leben, indem man die Probleme endlich loslassen und fallen lässt – aber damit leider auch das Leben selbst. Dieses ganz normale, oft komplizierte, schmerzhafte, aber eben auch kostbare Leben.
Alles wird angefasst
Wer immer loslässt, hat allmählich so entspanne Hände, das sie schwächer werden. Der Körper folgt, wird spannungslos, der Mensch samt Körper und Seele wartet ab, ist nur noch mittelmäßig interessiert und schließlich lasch. Hilfreich aber ist es, neu das Wünschen zu lernen: Darauf weisen die “Gedanken zum Tag” von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer hin, die der Bayerische Rundfunk am 4. November 2024 unter der Redaktion von Sabine Winter und der redaktionellen Mitarbeit von Georg Magirius gesendet hat. Beispielhaft sei ein Kind, zu dem der Großvater im Spielzeugladen sagt: Such dir etwas aus! “Das etwa zweijährige Kind strahlt und geht los: Alles wird angefasst, von Regal zu Regal, alles muss in die Hände genommen werden, wird begutachtet, betastet, erfasst (wenn auch sehr zum Leidwesen manch anderer Erwachsener).”
Seine Wünsche ernst nehmen
Das Kind freut sich nicht, weil es sein Kinderzimmer entrümpeln darf. Es freut sich, etwas in die Hand zu bekommen. Die Erwachsenen können von Kindern lernen, sagen die Psychotherapeuten und Autoren, im besten Sinne unbedarft und selbstverständlich die Hände auszustrecken, intensiv nach etwas zu greifen. “Wenn ihnen ihr Greifen noch nicht aberzogen ist, wenn ihr Greifen nicht ins Leere geht (zumindest nicht allzu oft), wenn sie die Erfahrung machen, dass es sich lohnt, zu sehnen und zu wünschen und nach dem zu greifen, was man braucht, dann wächst in ihnen die Gewissheit, dass Wünsche in Erfüllung gehen können, dass es sich lohnt, zu wünschen, dass es sich lohnt, seine Wünsche ernst zu nehmen und in die Welt hinauszurichten, dass es sich lohnt, nach den Sternen des Lebens zu greifen.” – Loslassen! Oder besser anfassen? Die Gedanken zum Tag hier lesen. Das Foto stammt von Ulrike Mai, Pixabay.