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Gottes fehlende Adresse

inspiration - Zeitschrift für christliche Spiritualität und Lebensgestaltung - mit einem Beitrag über Gottes fehlende Adresse

Gottes fehlende Adresse und die menschliche Erfahrung des Fliehens gibt dem Christentum sein Gepräge. Das ist die These der Dezemberausgabe 2016 der Zeitschrift “inspiration:”. Bewusst habe man die Thematik Flucht für die Weihnachtsausgabe ausgewählt. Schließlich “steht doch das Weihnachtsfestfest wie kein anderes Fest für die Sehnsucht nach Heimat, nach Geborgenheit, nach Frieden”. Das schreibt Maria Saam, Theologin und Redakteurin der Zeitschrift. Einbrechender Schrecken, Fremdheit und der Verlust des festen Standpunkts – alls das würde schließlich innerhalb der christlichen Spiritualität nicht übersehen. Stattdessen sei es oftmals die Grundlage einer tiefen Gottessuche.

Sind die Deutschen gekränkt?

Die Schreckensbilder gegenwärtiger Fluchtbewegungen bilden den Hintergrund der Ausgabe. Außerdem die ansteigende Zahl von Flüchtlingen seit Sommer 2015 in Europa. Sie löse oftmals heftige Abwehr aus. Aber warum?  “Fühlt sich unser kleines narzisstisches Ich gekränkt oder bedroht, jenes Ich, das im Kern wenig Selbstbewusstsein hat, aber sich aufbläht im Stolz auf unsere kulturelle Größe und unseren matieriellen Erfolg? Und nun kommen fremde Menschen ins Land, Flüchtlinge, die uns nicht nur etwas wegzunehmen drohen, sondern die uns auch noch zeigen, dass man mit wenig leben kann”. Das schreibt Stefan Kiechle, Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten, in seinem Beitrag über die wechselvolle Grunderfahrung “Fliehen und bleiben”. Auch Jesus sei geflohen. Und Gott lasse sich mit einem Wanderer vergleichen, der in Bewegung sei, um im Menschen Heimat zu finden.

Gottes fehelnde Adresse: Mobile Heimat

Die Fluchtgeschichte Jesu wird im Matthäusevangelium erzählt. Sie werde allerdings nicht als Weltneuheit dargestellt, sondern vermutlich “bewusst vor dem Hintergrund biblischer Vorbilder”, meint die Juristin, Theologin und Exerzitienbegleiterin Johanna Schulenburg. Jesus werde “damit in die Reihe mit anderen verfolgten Gerechten” gestellt. Zum Beispiel mit Abraham oder Josef aus der Tora. Die Fluchtgeschichten der Bibel zielten nicht unbedingt auf ein Happy End. Das stellt der Theologe Hansjörg Schemann fest. Aber sie könnten zu einer Gotteserfahrung führen. Religion und Glaube ließen sich also als eine Art von “mobiler Heimat” verstehen.

Wie das Exil die Philosophie verändern kann

Im Blick “auf die lange Geschichte der Philosophie drängt sich die These auf, dass die meisten Philosophen eher sesshanft waren”, schreibt der Theologe, Philosoph und Journalist Christian Modehn. Heidegger sei kaum aus dem Schwarzwälder Raum hinausgekommen. Von Kant in Köngisberg ganz zu schweigen. Allerdings gebe es Gegenbeispiele. “Die Erfahrungen der Flucht und das Leben in einem wenig freundlichen Zufluchtsland verändern definitiv Hannah Arendts Denken.” Und Voltaire? Er musste sich innerhalb des eigenen Landes oft dem Zugriff entziehen. Eindrücklich die Erfahrungen des französischen Protestanten Pierre Bayle, der im 17. Jahrhundert in Holland Zuflucht fand. Er habe eine religiös motiverte Bereitschaft zur Gewalt eher unter Christen als unter Muslimen gesehen. Laut Modehn sind heute Philosophen, die Flüchtlinge sind, in der muslimischen Religion in Nordafrika, Pakistan oder im Iran groß geworden. Typisch für sie sei die Anwendung der historisch-krtischen Deutung des Koran.

Was in Deutschland fliehen lässt

Deutschland ist allerdings nicht nur ein Land der Zuflucht. Sondern auch ein Land der Flucht. Denn gar nicht wenige würden zu Fliehenden. Das zeigt der Beitrag der Haushaltsökomonim Johanna Thie. Mindestens jede vierte Frau in Deutschland in Alter zwischen 16 und 85, die in einer Partnerschaft gelebt habe, habe mindestens einmal gewaltvolle Übergriffe durch einen Partner erlebt. So schreibt es Thie, die zum Vorstand des Vereins Frauenhauskoordinierung e.V. gehört. Es gebe ein differenziertes Hilfesystem. Denn Frauenhäuser würden Schutzräume und Unterkunft zu jeder Tages- und Nachtzeit bieten. Allerdings: “Die Gesamtzahl der Frauenhausplätze reicht bundesweit nicht aus.”

Flucht als Lebensform

Flucht und Exil spielen in der Kunst eine gewichtige Rolle. Zum Beispiel im Werk Ernst Barlachs. Darauf macht der Theologe und Kunstgeschichtler Marco A. Sorace aufmerksam. Barlachs Skulptur Flüchtling lasse sich dabei am treffendsten mystisch interpretieren. Unter Mystik seien nach Michel de Certeau solche Ausdrucksformen zu verstehen, die um einen tiefen Mangel und Verlust wissen, wie sie sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als geistes- und kulturgeschichtliche Krise aufdrängten. “Im Zuge dieser Krise ist es nicht mehr möglich, angesichts von Sinnlosigkeit – wie etwa der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Flüchtenden – einfach als vorgegeben geglaubten Sinn der Welt zu repräsentieren.”

Religion der Zukunft

Ernst Barlachs Flüchtling lasse sich in diesem Sinn verstehen: “Sich permanent ‘im Exil’ zu befinden ist die Lebenswirklichkeit, die es neuzeitlich zu aktzeptieren gilt. Ein Mystiker ist jener, der die ‘Flucht’ willentlich zu seiner Lebensform gemacht hat.” Weit davon entfernt, das Leiden der in seiner Zeit so entwurzelten Menschen durch die Kunst schönzureden, sehe Barlach in den Erscheinungsweisen der Bewegung, wozu auch das Innehalten gehöre, im Phänomen des Aus- und Übergangs etwas, wodurch sich ihm eine Religion und ein Christentum der Zukunft erschließe.

Gott kommt und geht

Solch ein Christentum der Zukunft speise sich aus einer Geborgenheit der anderen Art, nämlich einer Heimat, die nicht an Ortschilder gebunden sei, schreibt der Theologe und Schriftsteller Georg Magirius in seinem Beitrag “Himmelweite Heimat”. Diese Zukunftsperspektive deute sich an, wenn man rückwärts schaue und einen Traditionsstrang mit sehnsüchtigen Augen verfolge, nämlich die Exodusüberlieferung. Laut Magirius handelt es sich um die biblische Heimatgeschichte par excellence, die freilich eine Migrationsgeschichte ist. Es ist die Flucht der Israeliten aus der Sklaverei, die sich ein fanstastisch schönes Land erwandern wollen.

Gottes fehlende Adresse

Das vielleicht bewegendste und auch bewegliche Heimatsymbol sei dabei eine Hütte, die Stiftshütte oder das Offenbarungszelt. “Es ist kein Eigenheim, auch keine Tempel, also kein fest gebautes Gotteshaus, sondern ein Zelt, aufbaubar, aber auch wieder abbaubar.” In diese Hütte senke sich per Wolke manchmal Gott hinein, der sich überhaupt als sehr bewegungsfreudig zeige. Die Wanderer begleite er in einer Wolkensäule, des Nachts in einer Feuersäule, was folgern lässt: “Gott selbst hat offenbar keine feste Adresse. Er scheint jemand zu sein, der kommt und geht – und mit den Menschen gehen will.”

Informationen zum Buch “Unterwegs geborgen”

Sportschuhe hängen im Frühlingsgeäst - Cover des Buches "Unterwegs geborgen" von Georg Magirius

Der Beitrag “Himmelweite Heimat” von Georg Magirius ist angeregt von seinem Buch “Unterwegs geborgen – Auf der Suche nach Heimat”. Magirius hat das Buch im Grünewald-Verlag veröffentlicht. Es hat 144 Seiten, kostet 14 Euro 90. Andrea Langenbacher hat es lektoriert. Und die ISBN-Nummer lautet 978-3-7867-2702-6. Weitere Informationen und Pressestimmen sind hier.