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Flüchtlinge unterstützen durch Selbstliebe

Am besten kann man Flüchtlinge unterstützen durch Selbstliebe. Das schreibt Georg Magirius in der Evangelischen Zeitung für den Norden vom 19. September 2013. Angeregt ist der Beitrag vom Respekt, den die jüdische Tradition den Fremden und Flüchtlingen gegenüber ausspricht. Die Redaktion hat Sven Kriszio.

Der Beitrag “Flüchtlinge helfen durch Selbstliebe”

In der Jüdischen Bibel gibt es viele Ermunterungen, sich Fremden und Flüchtlingen zuzuwenden. Die Grenze zwischen Eingesessenen und Dazugekommenen ist dabei verwischt. An zentraler Stelle im Buch Leviticus, in der Mitte der Thora, heißt es: „Wie ein Einheimischer aus eurer eigenen Mitte soll euch der Fremdling gelten, der bei euch wohnt und du sollst ihn lieben wie dich selbst“. (3. Mose 19,34)

Aber warum soll man eigentlich jene im Blick haben, die nicht ihr ganzes Leben in einem Land oder an einem Ort geblieben sind? Die Begründung unterscheidet sich von dem, was in einer sich progressiv gebenden Pädagogik mitunter als Argument zum Einsatz kommt: „Schau doch, in welch schönem Haus du wohnst!“, hört dann ein Kind: „Und wie viele Spielsachen du hast, dazu Freunde und Mami und Papi.“ Das Kind habe es besser als andere: „Also gib ein wenig ab.“ Bei dieser Begründung zum Helfen, die auch unter Erwachsenen verbreitet ist, beugt man sich zum Anderen hinab. Das Helfen ist Ausdruck eines hierarchischen Denkens. Die Hinwendung zum Anderen ist eine raffinierte Selbstvergewisserung, besser gestellt zu sein.

Wer sind die Flüchtlinge? Wir selbst

Warum aber soll dem Alten Testament zufolge ein Flüchtling geschützt werden? Aus Selbstliebe. Dabei handelt es sich um einen Egozentrismus, der das Gegenteil von Egoismus ist. Er entfaltet einen verwirrenden Zauber. Denn der Andere, der Flüchtling, ist dann mitunter gar kein Anderer mehr, sondern ein Mensch wie du und ich, die nicht vergessen sollen, dass wir schon immer und für immer flüchtige Wesen sind. So allgemein existenziell klingt das im Alten Testament aber nicht. Bei Flucht denkt man stattdessen an eine konkrete Erfahrung, es ist die religiöse Urerfahrung, aus der das Judentum entstanden ist. Es ist auch die Keimzelle der Bibel. Nicht wenige sagen: Die alttestamentlichen Schriften seien Zeugnis einer bedrückenden Gesetzesreligion! Ultrakonservativ sei das, schimpfen dann manchmal die, die sich für emanzipiert halten.

Das Gesetz vom Ende der Bedrückung

Tatsächlich gibt es im Alten Testament viele Weisungen, die um Bedrückung wissen. Nur wollen sie gerade umgekehrt in ein Land weisen, in dem das Ende der Bedrückung gefeiert wird. Mit Lust an der Variation wird beschworen, dass dies oder das oder auch jenes getan werden soll, weil man doch erfahren habe, dass man einst als Sklaven in Ägypten lebte. Gehören deshalb gerade auch Jugendliche oft zu entschiedenen Sympathisanten der Zehn Gebote? Eigentlich müssten sie, weil im rebellischen Alter, misstrauisch gegenüber Vorschriften sein, lässt sich denken. Aber sie ergreifen oft Partei für diese Gebote. Sie spüren wohl instinktiv den Grund der Freiheit, auf dem diese fußen: Nämlich auf den Ewigen, der sich am Anfang der Gebote als der vorstellt, der „ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ (2. Mose 20,2)

Ein Volk von freien Wanderern

Wie grundlegend die Erfahrung der Flucht innerhalb des Alten Testaments ist, zeigt auch das wichtigste Fest der Juden: Passa. Es erinnert daran, wie Gott die Israeliten entfesselte, aus der Sklaverei befreite und zu freien Wanderern machte. Die Festspeise? Trockenes Brot. Denn ohne Proviant brach man damals auf, wird erzählt. Rasch griff man den rohen Teig, der noch nicht durchgesäuert war, und trug ihn in Backschüsseln und in Mäntel gewickelt auf den Schultern. Bei der ersten Rast wurde er gebacken. So soll man Passa feiern und dies Brot essen: „Um eure Lenden sollt ihr gegürtet sein und eure Schuhe an euren Füßen haben und den Stab in der Hand und sollt es essen als die, die hinwegeilen.“ (2. Mose 12,11)

Der beliebteste Herrscher war Flüchtling

Die Flucht allerdings soll nicht ewig dauern soll, sondern hat ein Ziel: Ein Land mit schönen Städten, Häusern und Brunnen, Weinbergen und Ölbäumen, heißt es im Deuteronomium (5. Mose 6, 10-13). All diese Güter habe man Gott zu verdanken, es handle sich also nicht quasi um einen selbst gebackenen Kuchen, von dem man dann den Fremden ein paar Streusel überlassen sollte, um sich dadurch besser zu fühlen. Nein, der Fremde ist gar kein Fremder, da man doch selbst Fremder war. Die Urerfahrung Flucht blinkt auch dann stetig auf, als man schon lange sesshaft war. So erscheint etwa König David nicht als souveräner Könner, zumindest nicht nur, sondern auch als Verfolgter, der Gott anruft: „Zähle die Tage meiner Flucht, sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel du zählst sie.“ (Psalm 56,9) Der wohl beliebteste Herrscher Israels: ein Flüchtling. Und Gott? Schaut nicht weg.

So sollen Flüchtlinge in Israel nicht als Neubürger gelten. Schließlich hatten die Hebräer während ihres Fliehens und jahrzehntelangen Wanderns noch nicht einmal den Status als Neubürger erreicht. Sie waren ohne Haus, Asyl, Mietwohnung oder Bausparvertrag. Und selbst der Tempel hatte keinen festen Platz, sondern war nichts anderes als eine Hütte. Wenn man rastete, baute man sie auf, darin rasteten die Tafeln mit den Zehn Geboten. Sie erzählen davon, dass Menschen, Familien oder Völker in den seltensten Fällen ohne Abschied und Bewegung auskommen.